Heinz Renner — Reflexionen und Erinnerungen eines Zeitzeugen
Über 40 Jahre nach seinem Tode ist nun endlich eine politische Biographie über den Kommunisten Heinz Renner veröffentlicht worden. Dem Bochumer Verlag „Ruhr Echo“ ist dies zu danken.
Dem Verfasser Günter Gleising ist es gelungen, Biographie und Zeitgeschichte zu verbinden.
Nach der Befreiung vom Nazifaschismus aus dem Zuchthaus Ludwigsburg 1945 nach Essen zurückgekehrt, wird Heinz Renner der erste Oberbürgermeister der Ruhrmetropole. Mit Frauen und Männern der Ersten Stunde sorgte er für einen Neubeginn aus Schutt und Asche. Renner wird Abgeordneter im Landesparlament und Minister unter zwei Ministerpräsidenten in Düsseldorf, Abgeordneter im Parlamentarischen Rat in Bonn und nach der Konstituierung des westdeutschen Staates Abgeordneter im Ersten Deutschen Bundestag. Dieser Lebensablauf ist mit belegten Daten und erforschten Zusammenhängen aufgezeichnet.
Vom Verfasser und Herausgeber Günter Gleising angesprochen, habe ich den Vorschlag übernommen, eine „Einführung“ zu schreiben. Nach so vielen Jahren sind meine Erinnerungen über Leben und Wirken des Genossen Heinz Renner noch lebendig. Als Mitglied der Bundestagsfraktion der KPD und über gemeinsame Parteiarbeit konnte es nicht nur bei Episoden bleiben. Es sind doch die Erinnerungen, die den lebhaften Genossen und Freund unvergessen lassen.
Ein nicht alltäglicher Lebensbeginn
Am 6. Januar 1892 in Lückenburg an der Mosel geboren, begann früh ein ungewöhnliches Leben. Im Jahre 1910, nach gutem Abschluss im Gymnasium, begannen seine Kontakte zu einer sozialdemokratisch orientierten Studentengruppe. Heinz beschäftigte sich mit sozialistischer Literatur, u.a. von Marx und Engels. 1914 folgte die Mitgliedschaft in der SPD. Im klerikal beherrschten Moseltal auch damals ein nicht alltäglicher politischer Lebensbeginn. Als Soldat im Ersten Weltkrieg mit einer lebenslang belastenden Verwundung sah er die Leiden und Sorgen der Opfer des Krieges und deren Familien. Solidarität zu organisieren war nun Verpflichtung für sein ganzes Leben.
Durch den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg tief getroffen, folgte im Februar 1919 sein Eintritt in die USPD; noch im gleichen Jahr trat er dann der KPD bei. Er wurde Stadtverordneter in Essen und Mitglied im Provinziallandtag. Hier begannen auch seine vielseitigen direkten Berührungen mit dem Kölner Oberbürgermeister Dr. Konrad Adenauer. Zwei hartnäckige Interessenvertreter konträrer politischer Richtungen trafen hier aufeinander.
Als Emigrant im Saargebiet und in Paris
Ein tiefer Einschnitt war das Ende der Weimarer Republik. Auch in Essen wütete der Terror der Nazi-SA gegen Kommunisten, Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Heinz Renner musste um sein Leben bangen. Es begann die Zeit der Emigration im Saargebiet und in Paris. In Paris organisierte er die Hilfe für den Freiheitskampf des spanischen Volkes und 1939 als Sekretär der „Föderation der deutschen Emigranten in Frankreich“ Unterstützung und Hilfen.
Nach Ausbruch des Krieges drohten neue Verfolgungen und Deportationen, diesmal durch französische Polizeiorgane. Selber krank, unterstützte Heinz Renner u.a. im Internierungslager Le Vernet und in Pariser Gefängnissen Mitgefangene und behandelte sie als Arzthelfer. Dieser Menschendienst hat viel Anerkennung und Dank der Internierten ausgelöst. Heimkehrer berichteten uns darüber. Die hitlerhörige französische Polizei lieferte auch Heinz Renner an die Gestapo aus. Als politischer Gefangener langte er schließlich im Zuchthaus Ludwigsburg an.
Nach der Befreiung von Krieg und Faschismus begann seine „Fußreise“ nach Essen.
Dabei kam es zu einer bermerkenswerten Begegnung mit Adenauer in Köln.
Ohne über Adenauers Bleibe informiert zu sein, meldete er sich bei der Kanzlei des Bischofs als Bekannter von Dr. Adenauer. Er ließ Adenauer einen Kartengruß übermitteln, anschließend kam es zu einem Treffen der beiden. Darüber gibt es viele Legenden. Heinz hat in Bonner Gesprächen Folgendes berichtet:
Hauptthema der Unterhaltung war ein „Neubeginnen, als gemeinsame Aufgabe aller Hitlergegner“: Dem fühlte sich auch Dr. Adenauer verpflichtet.
Adenauer spielte dieses Gespräch später herunter, berichtete aber einmal im Bundestag „von einer Karte“, die er in Köln von Renner erhalten habe.
Vom Krupp-Kasino zum „Deutschlandhaus“
In Essen angekommen suchte er nach alten Genossen und seiner Familie. Bei einem Treffen im Krupp-Kasino erhielt ich den ersten, aber bleibenden Eindruck über den Kommunisten Renner: Ein abgemagerter Mensch in schäbiger Zuchthauskleidung trat ein und fragte noch etwas zweifelnd:
„Bin ich hier richtig bei meinen Genossen? Ich bin Heinz Renner. Ich brauche die Hilfe der Partei.“
Wir waren freudig gestimmt, forderten Heinz auf, von unseren Stullen zu essen und mit uns zu beraten. Heinz winkte energisch mit den Worten ab: „Was ihr hier macht, ist richtig. Ich brauche aber Verbindungen, um sofort Wohnraum für Heimkehrer und Hilfen für die Kinder zu organisieren. Wer kann den Weg in die Stadt zeigen?“ Das geschah.
Bald richtete er eine kommunale Beratungsstelle im zentral gelegenen, aber kaum zerstörten „Deutschlandhaus“ ein. Von hier geschah so etwas wie ein „Essener Wunder“. Notleidenden wurde geholfen, Wege zur Hilfe und Selbsthilfe gezeigt – oft mit Unterstützung britischer Besatzungsoffiziere. Sein Helfer war der aus dem KZ Buchenwald zurückgekehrte junge Essener Kommunist Erich Loch. Dieser erledigte energisch die mit Heinz Renner getroffenen Festlegungen über Wohnräume und Behelfsmöbel, Brennstoffe und Kleidung. So konnte ich bei meinen kurzen Begegnungen mit Renner viel für meine eigene politische Arbeit in Bochum lernen.
Der von den Besatzern als Oberbürgermeister eingesetzte Kommunist packte an: Straßen wurden von blockierendem meterhohem Schutt befreit, der Straßenverkehr zu den Stadtteilen und Bahnhöfen freigelegt. Ehemalige aktive Nazis mussten als „Buße“ ihre Aufbaustunden ableisten, meistens nicht unwillig. Seine Genossen aus der KPD waren aktiv dabei. Mit Sozialdemokraten, Christen und Parteilosen erhielten diese sehr bald den bis heute ehrenden Titel: Frauen und Männer der ersten Stunde.
Von Essen nach Düsseldorf und Bonn
Heinz Renner hat durch sein politisches Tun in Essen viele Erfahrungen für seine spätere Arbeit als Landtagsabgeordneter und Minister in NRW gesammelt. Seine Partei unterstützte seinen Weg nach Bonn als Abgeordneter des Parlamentarischen Rates. Dieser hatte auf Befehl der Hohen Kommissare der Besatzungsmächte bei der Ausarbeitung einer separaten Verfassung tätig zu sein. Mit dem von den westlichen Siegermächten geforderten Verfassungsdokument erfolgte ein entscheidender Schritt in die Zweistaatlichkeit.
Das Volk wurde dabei nie gefragt. Es gab keine öffentliche Diskussion mit abschließendem Wählervotum. Die KPD-Abgeordneten Max Reimann, Hugo Paul (zeitweise) und sein Nachfolger Heinz Renner haben sich zwar an den Beratungen aktiv-alternativ eingesetzt, um eine demokratische und soziale Absicherung von Grundrechten zu erreichen. Nach Abschluss der Ausarbeitung blieben sie bei ihrer grundsätzlichen Ablehnung und der Forderung, sofort mit Vertretern der DDR-Volkskammer eine gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Ein entsprechender Antrag, in letzter Stunde gestellt, wurde aber abgelehnt. Eine mögliche „Sternstunde“ für die frühe Einheit wurde damit für über 40 Jahre vertan.
Max Reimann und Heinz Renner verweigerten die Unterzeichnung. Max Reimann erklärte am Tage der Unterzeichnung namens der KPD:
„Sie, meine Damen und Herren, haben diesem Grundgesetz, mit dem die Spaltung Deutschlands festgelegt ist, zugestimmt. Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben.“
Prophetische Worte: Bis jetzt wurde das Grundgesetz über vierzigmal geändert.
Vier Jahre im Bundestag
Mit Abschluss seines Wirkens im Parlamentarischen Rat begann die wohl intensivste Tätigkeit des Kommunisten Renner im Ersten Deutschen Bundestag. Mit Max Reimann übernahm er den Fraktionsvorstand und vertrat die KPD im Ältestenrat.
Zunächst waren wir 15 Abgeordnete. Alle waren erfahrene Parlamentarier aus ehemaligen Reichs- und Landtagen der Weimarer Republik, nun in westdeutschen Kommunen und Landtagen, als Minister und auch im Frankfurter Wirtschaftsrat. Alle aktive Gewerkschafter, alle waren aktiv gewesen im antifaschistischen Widerstand. Alle waren für ihr Wirken hoch motiviert.
An den Vorbereitungen für Gesetzesvorlagen und Anfragen hatte Heinz Renner immer großen Anteil. Er hat diese Fraktion mit geformt. Kein Brief, keine Eingabe durfte unbeantwortet bleiben, kein Ratsuchender vor den Türen des Fraktionsbüros abgewiesen werden.
Es war ein schwerer Schlag für die Arbeit der Fraktion, als unser Kollege Abgeordneter Kurt Müller, einer der Stellvertreter des Parteivorsitzenden, von einer „Informationsreise“ nach Berlin nicht zurückkehrte. Sowjetische KGB-Offiziere und die Stasi der DDR nahmen Kurt Müller die Freiheit, inhaftierten und verschickten ihn nach einem Geheimprozess für Jahre zur Zwangsarbeit.
Weder Fraktion noch Max Reimann als Parteivorsitzender wurden die Gründe oder gar Festnahme und Aufenthalt mitgeteilt. Kurt Müller hatte auf einem Zettel in der Größe einer Visitenkarte seinen Rücktritt als Abgeordneter an den Präsidenten des Bundestages geschickt. Dieser wurde der Fraktion durch Heinz Renner übermittelt. Trotz der vielen offenen Fragen haben wir Abgeordneten die spätere „Begründung“, wonach Kurt Müller als Parteifeind überführt sei, hingenommen.
Der Kalte Krieg hatte ein weiteres Opfer. Die KPD-Abgeordneten verloren den Fraktionsstatus, wurden bei Redezeiten benachteiligt und von der Ausschusstätigkeit ausgeschlossen.
Die DKP hat Kurt Müller von allen Anschuldigungen rehabilitiert. Spät zwar, aber aus voller Solidarität.
Das KPD-Verbotsurteil und die Auswirkungen für Heinz Renner
Einen tiefen Einschnitt für die Existenz der KPD bedeutete das vom Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956 verkündete Verbotsurteil.
Heinz Renner hat trotz Verbot nicht aufgegeben und als Journalist gegen die Verbotspolitik der Adenauer-Regierung und ihre politische Justiz seine Stimme erhoben. Der „Informationsdienst über Sozialfragen, Wirtschaft und Politik“ war nun seine Tribüne für die Öffentlichkeit. Darin wurden Beiträge gegen das Verbotsurteil veröffentlicht und für die Kandidatur von Kommunisten bei Wahlen geworben. Wo dies, wie in NRW, geschah, war für Staatsanwälte und Richter ein Anlass, mit Untersuchungshaft, Berufsverboten und Verurteilungen den Kalten Krieg gegen eine Partei weiterzuführen, die die meisten Opfer gegen das Nazisystem gebracht hatte. Einen Schlussstrich unter diesem Relikt aus fernen Zeiten mögen Bundesverfassungsgericht und auch der Bundestag bis heute nicht ziehen. Eine typisch deutsche Lektion über Unduldsamkeit und Intoleranz, ein makabres Mitbringsel und Anmahnung für reaktionäre Akteure in der Europäischen Gemeinschaft, als Doktrin eines staatsübergreifenden Antikommunismus zu wirken.
Als Heinz Renner mit Karl Schabrod und Ludwig Landwehr, beide ehemalige Landtagsabgeordnete der KPD, den Bundestagspräsidenten Gerstenmeier (CDU) aufforderten klarzustellen, dass zur Neuwahl des Bundestags Kommunisten auch in Gemeinschaft kandidieren können, „ohne durch Organe der Polizei und durch die von der Legislative bestellten Wahlausschüsse behindert zu werden„, war dies für die politische Justiz ein strafwürdiger Fall. Es gab auch keine Antwort aus Bonn. Als mit weiteren Kommunisten auch Heinz Renner seine Kandidatur bei den Landtagswahlen 1958 in NRW offiziell anmeldete und der Essener Kreisausschuss bereits zugestimmt hatte, wurde diese vom Landeswahlausschuss abgelehnt. Mit Renner wurde auch Ernst Schmidt (Essen), der als sogenannter Vertrauensmann für Heinz Renner bei der Landtagswahl 1958 benannt war, angeklagt und zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt – wegen „Fortführung“ der verbotenen KPD.
Gegen Heinz Renner ging die Adenauer-Justiz in Düsseldorf auf besonders spektakuläre Weise vor. Er wurde auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof, nach Rückkehr von einer Operationsbehandlung in Moskau, verhaftet und als politischer Häftling, wie ein Krimineller, nach Düsseldorf „überstellt“. Wegen seiner schweren Gesundheitsschäden sah sich die Justiz nach wenigen Tagen gezwungen, Heinz Renner als haftunfähig zu entlassen. Dies war auch ein Erfolg einer großen Protestwelle. Diese Repressionen mussten seine schwer belastenden Krankheiten dramatisch verschlimmern.
Solidarität und Hilfen in Berlin
Sein weiteres Leben erforderte einen sofortigen Krankenhausaufenthalt. Dieser wurde bei seinen Genossen in Berlin gesichert. In Berlin hatte Heinz die besondere Hilfe und Fürsorge durch seine Lebensgefährtin Edith Kimmigkeit, die schon im Bonner Fraktionsbüro, in der Redaktion des „Informationsdienstes“ für seine Arbeitsfähigkeit sorgte, nun auch in seiner Berliner Wohnung. Sie half ihm auch bei seinem Versuch, einen politisch-persönlichen Lebensbericht aufzuschreiben, über seine Lebenserfahrungen und Erkenntnisse zu berichten. Damals zeitweise in Berlin lebend, hatte ich die Aufgabe übernommen, Heinz mit Unterlagen und Veröffentlichungen beizustehen. Mein letzter Besuch war aber schon ein Abschied. Im Krankenhaus kämpften die Ärzte um sein Leben. So blieben seine Absichten, über sein Leben zu berichten, unvollendet.
Epilog
Als Heinz Renner im Alter von 72 Jahren seine Augen für immer schloss, verlor die sozialistische Bewegung einen Genossen, dessen ganzes Leben Kampf war, Kampf für sozialen Fortschritt im Sozialismus. Immer verbunden mit seiner großen Achtung für den sozialistischen Versuch in der DDR und mit seiner Freundschaft zur Sowjetunion.
Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in großer Zahl kondolierten. Darunter Renners Nachfolger als Oberbürgermeister in Essen, Gustav Heinemann, der durch freundschaftliche Beziehungen in Essen und Bonn mit Heinz Renner verbunden war. Bundeskanzler Dr. Adenauer kondolierte mit den Worten: „Meine Begegnungen mit dem Menschen Heinz Renner habe ich nicht vergessen.“ Der Vizepräsident des Parlamentarischen Rates und Bundestages Carlo Schmid (SPD) schrieb: „Er hat dem Bundestag viel Farbe gegeben, und viele unserer Kollegen haben bei mancher Gelegenheit bedauert, dass seine Stimme im Chor fehlte.“ Und Ruhrbischof Hengsbach von Essen schrieb die Worte: „Was er in rechter Gesinnung zum Wohle seiner Mitmenschen getan hat, wird bei Gott nicht vergessen sein.“
Seine Genossinnen und Genossen haben nach der Trauerfeier am 1. Februar 1964 im Essener Südwest-Friedhof dem Weg der Urne zur Grabstätte mit ihren Fahnen ein würdiges Geleit gegeben.
Karl Schabrod, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der KPD-Landtagsfraktion in Düsseldorf und alter Freund und Kampfgefährte, ehrte bei der Trauerfeier das Leben des Bürgers und Kommunisten aus Essen und schloss mit den Worten:
„Für uns ist er nicht tot. Er lebt in unser aller Erinnerung weiter und wird der Jugend, der heutigen und kommenden Generation, ein bleibendes Vorbild sein und bleiben. Dafür zu sorgen, in Deinem Sinne, lieber Heinz, weiterzuarbeiten, das sei unser Gelöbnis.“
Möge die Veröffentlichung seiner politischen Biographie, für alte und neue Mitkämpfer in der nicht auszulöschenden Bewegung und Partei der Kommunisten, dieser Aufgabe aus dem Vermächtnis förderlich sein.
Fritz Rische
Düsseldorf, 1998