von Wolfgang Clement
Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
Diese Dokumentation des Besuchs von Frau Orna Birnbach in Bochum, Witten und Duisburg im Herbst 2000 ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass junge Menschen hierzulande bereit sind, jene Verantwortung zu übernehmen, die den Deutschen aus ihrer Geschichte aufgegeben ist.
Orna Birnbach ist eine jüdische Frau, die den Holocaust überlebt hat. Sie ist nach Deutschland, in das Land der Täter, zurückgekehrt, zunächst als Zeugin in NS-Prozessen am Landgericht Bochum, später dann als Zeitzeugin für das, was die Juden Europas in den Jahren des Hitler-Regimes erlebt und erlitten haben.
In ihren Erzählungen lebt die Erinnerung an das Grauen fort, die Erinnerung an das Grauen, das ihr und ihren Leidensgefährten in Deutschland und von Deutschen angetan wurde. Dieses Grauen holt sie immer wieder ein. Nachts in ihren Träumen. Tagsüber, mitten im täglichen Leben, wenn irgendein Ereignis, ein Wort, ein zufälliger Gegenstand, die Schrecken der Verfolgung, die Schrecken des Lagers wieder lebendig macht, als seien sie Gegenwart. Dieses Grauen begleitet ihre Tage – für immer. Und es wird auch das Leben ihrer Kinder und Enkel begleiten – für immer. Das ist die »Normalität« der Opfer.
Was ist dagegen die »Normalität« der Täter oder die des Volkes, dem sie angehören? Es ist zuforderst jene brüchige, sogenannte »Normalität« des Vergessens und Verdrängens, die zwar menschlich allzu verständlich ist, die aber eine verantwortliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht ersetzen kann. Die 12 Jahre des Hitlerregimes in Deutschland und Europa sind eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Diese Vergangenheit lässt sich nicht bewältigen und wer sie verdrängen will, den wird sie immer wieder einholen.
In vielen Gesprächen mit jungen Menschen, die die 12 Jahre des Nationalsozialismus nur aus Büchern oder aus Filmen kennen, habe ich erlebt, dass sie Scham empfinden über das, was damals in Deutschland und durch Deutsche geschehen ist. Mir selber ist es auch so gegangen, als ich in den 50er Jahren zum ersten Mal von den Verbrechen der Nazis erfahren habe. Scham ist das richtige Wort für das Gefühl, das durch das nationalsozialistische Grauen in einem empfindenden Menschen ausgelöst wird. Wir Deutsche müssen lernen, dieses Gefühl der Scham auszuhalten. Denn nur so können wir jene Verantwortung übernehmen, die uns aus unserer Geschichte aufgegeben ist.
Menschen wie Orna Birnbach helfen dabei, uns dieser schmerzhaften Einsicht zu stellen. Aus ihren Erzählungen wird unmittelbar und konkret klar, wohin es führt, wenn einer daherkommt und sagt: Ab heute ist Unrecht Recht. Wenn einer daherkommt und sagt: Ab heute ist Diebstahl, Folter, Mord, gesetzlich befohlen. Wenn einer daherkommt und sagt: Ab heute steht Nächstenliebe – und was heißt das schließlich anderes, als mitfühlen, mitleiden mit den Verfolgten? – unter Todesstrafe.
Und deshalb sind die Berichte der Überlebenden des Holocaust vor allem anderen der Appell für ein »Nie wieder!«, der uns dafür in die Pflicht nimmt, zwar laut und vernehmlich Nein zu sagen, wenn Menschenrechte verletzt werden. Und wenn man ihnen zuhört, den Überlebenden der Vernichtungslager, dann weiß man dass dies und nur dies die Grundlage aller Zivilisation ist, die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, die Grundlage allen Lebens. Ich danke Orna Birnbach dafür, dass sie nicht müde wird, uns dies zu lehren.
Wolfgang Clement