Schreiben Orna Birnbachs an den Ministerpräsidenten
An den Ministerpräsidenten des Landes Nordrheinwestfalen
Herrn Wolfgang Clement
Bochum, 11.11.2000
Sehr geehrter Herr Clement,
inzwischen bin ich seit elf Tagen in Bochum, um von hier aus mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit zahlreichen Lehrern und weiteren Interessierten an der Bochumer ev. Stadtakademie und dem Kulturzentrum Bahnhof Langendreer ins Gespräch zu kommen. Bevor ich heute wieder nach Israel reise, möchte ich Ihnen sagen, wie sehr mich Ihre persönliche Anteilnahme an meinem Schicksal und an demjenigen der Juden während der Shoah bewegt hat, die Sie in Ihrem Schreiben an Andreas Disselnkötter zum Ausdruck gebracht haben.
Bei meinen Begegnungen hier war es insbesondere die Jugend, die mir gezeigt hat, dass der gegenwärtig wiedererwachte Antisemitismus und Rassismus in Deutschland nicht alle Herzen vergiften kann. Solange ich die Kraft habe, werde ich nach Deutschland reisen und die Menschen hier dazu ermutigen, nicht gleichgültig zu sein gegenüber ihrer und unserer Geschichte, nicht wegzuschauen, wenn ihnen Hass und Gewalt begegnet.
Neben vielen einzelnen Menschen haben mich besonders warmherzig der Wittener Bürgermeister, Herr Lohmann, und Frau Martina Kliner-Vruck vom Wittener Stadtarchiv empfangen. Ich kann sagen, dass ich viele Freunde hier gewinnen konnte. Allein in Bochum habe ich nichts von dem Bürgermeister oder der Stadt gehört.
Bochum ist ein besonderer Ort für mich, weil ich zwischen 1964 und 1974 bei den 55-Prozessen am Bochumer Landgericht ausgesagt habe. Damals brachte man mich und weitere jüdische Zeugen zusammen mit den Angeklagten, ehemaligen SS-Angehörigen, in einem Hotel unter. Unser Protest dagegen hat nichts bewirkt, und die Prozesse sind Schülern wie Lehrern heute nicht bekannt. Ich habe von einigen erfahren, dass sie jetzt dazu forschen wollen. Vielleicht haben sie auch Gelegenheit, mich nach Polen an die Orte der Vernichtung zu begleiten, wenn ich im August 2001 dorthin reise.
Ich wünsche Ihnen viel Mut und Kraft für die Fortführung Ihrer Bemühungen um »Toleranz und Zivilcourage«, von denen mir Andreas Disselnkötter und Karin Schiele erzählt haben. Sie haben mich eingeladen, begleitet und mir das Gefühl gegeben, dass ich mich hier trotz der furchtbaren Nachrichten, die mich aus Deutschland in diesem Sommer erreicht haben, sicher und geborgen fühlen kann.
Besuchen Sie mich doch, wenn Sie einmal nach Israel kommen sollten. Vielleicht ergibt sich auch bei meinem nächsten Besuch im Ruhrgebiet die Möglichkeit zu einer persönlichen Begegnung.
Mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen
Orna Birnbach