Zu dieser Dokumentation
1964 traf eine Gruppe von Jüdinnen und Juden am Düsseldorfer Flughafen zur Weiterreise nach Bochum ein. Sie alle waren einer Aufforderung des Bochumer Landgerichts gefolgt, beim Prozess gegen den ehemaligen Leiter des Ghetto Tarnow, Hermann Blache, auszusagen. Unter ihnen war auch die damals 36jährige Orna Birnbach (geb. 1928 in Wloclawek), die mit ihrer Familie vor den Deutschen nach Tarnow geflüchtet war, bevor auch dort ab September 1939 mit der Vernichtung der Juden begonnen wurde. Bis 1943 kam es bei sogenannten »Aktionen« immer wieder zu Massenerschießungen. Ermordungen gehörten zum Alltag in Tarnow. Nur wenigen der über 30.000 Juden der Stadt gelang es, über die ungarische Grenze zu flüchten. Mitglieder der zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hazair organisierten bewaffneten Widerstand – die meisten von ihnen starben im Kampf mit SS-Einheiten. 1943 waren bereits 20.000 der Tarnower Juden ermordet worden, im Ghetto und in Vernichtungslagern wie demjenigen von Belzec. Als die Stadt im September 1943 für »judenrein« erklärt wurde, hatte die erst 15jährige Orna Birnbach bereits einen Teil ihrer Familie, ihr Zuhause und ihre Freunde verloren. In Bochum sollte sie den Mörder ihres Großvaters auf der Anklagebank wiedersehen, der in einem spektakulären Prozess zu lebenslänglicher Haft (zusätzlich sechs Jahre) verurteilt wurde. Auch durch die weiteren Bochumer NS-Prozesse, in denen Orna Birnbach gegen ehemalige SS-Bedienstete im Ghetto Tarnow bis 1974 aussagte, hat sie ein ganz eigenes Verhältnis zu dieser Stadt entwickelt.(1)
In der Jerusalemer Gedenk- und Forschungsstätte Vad Vashem fragte sie mich (A. D.) 1996 danach, was aus den Angeklagten geworden sei und wie man in Bochum heute über die Prozesse spreche. Nachfragen bei Lokal-Historikern halfen jedoch nicht weiter. Diese Nach-Geschichte der Shoah war vollständig aus dem Gedächtnis der Stadt gelöscht – wenn man einmal von einem Mitglied des Vereins der Verfolgten des Naziregimes absieht. Dagegen hat der bundesrepublikanische Erinnerungsrausch der 90er Jahre inzwischen auch die Stadt Bochum erreicht. Hier wird jetzt etwas von dem nachgeholt, was etwa in Witten seit vielen Jahren zur gängigen Praxis der Stadt gehört: jüdische Geschichte und die Spuren der Shoah wieder sichtbar zu machen. Mit dem Besuch Orna Birnbachs 1998 in Bochum aber wurden die gängigen Epochengrenzen überschritten, denn in ihrer Geschichte verknüpfen sich auf spezifische Weise die Shoah und ihre Spätfolgen mit der Nachkriegsgeschichte der Stadt. Auch scheint an ihren Erfahrungen etwas von der bislang unzureichend befragten Wirkungsmächtigkeit der NS-Justiz über 1945 hinaus auf, und man erfährt einiges über die Rahmenbedingungen, unter denen die Verfahren und Prozesse stattfanden: Auch von den Mördern in Tarnow wurden nur wenige überhaupt angeklagt, die meisten freigesprochen oder frühzeitig aus der Haft entlassen. Daß die Ursachen dieser bundesweit niederschmetternden Bilanz nicht alleine in der Justiz zu suchen sind, zeigen exemplarisch Dokumente der Gerichtsverfahren, in denen Orna Birnbach ausgesagt hat.
Nicht nur in den 60er und 70er Jahren waren die NS-Prozesse ein Politikum, ihre politische Brisanz zeigte sich auch im Bochum der späten 90er Jahre. Zu welchen Effekten es führen kann, wenn die Nach-Geschichte der Shoah ins Blickfeld rückt, demonstrierte etwa der Leiter einer angesehenen Bochumer Akademie. Große Verdienste hat er sich auf dem Gebiet der Erforschung jüdischer Geschichte vor 1945 erworben, doch das Angebot zur Gestaltung eines Abends mit Frau Birnbach wies er 1998 mit der Bemerkung zurück, man müsse »mit dem Schuldvorwurf vorsichtig sein«. Ähnliches verlautet von einer Schuldirektorin, die gleich dem Akademie-Leiter vielleicht sehr viel von christlichen bzw. christlich-säkularen Buß- und Schuldritualen versteht, jedoch nichts von jüdischen Umgangsweisen mit Schuldfragen. Sie führte zur Begründung ihrer ablehnenden Haltung an, daß sie einmal »unfreundlich« von einer Israelin empfangen worden sei.
Solche Verlautbarungen hat der jüdische Publizist Richard Chaim Schneider auf seine Weise kommentiert: »In Deutschland müssen sich Juden anständig benehmen, wenn sie gehört werden« wollten. Lasse doch die Diskussion über den Holocaust »keine Wut und Aggression von jüdischer Seite« zu.
Die vergleichsweise leisen Töne Orna Birnbachs lassen keinen Zweifel aufkommen, was die Schuld der deutschen Täter und Zuschauer von damals anbetrifft. An den Briefen, Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler, verfaßt in der Folge ihres Besuchs im November 2000 in Bochum, Witten und Duisburg, kann dies nachvollzogen werden. Diese Arbeiten bilden den Schwerpunkt der vorliegenden Dokumentation.
Schon vor ihrem Besuch in Bochum 1998 war sie zu Gesprächen in Limburg und Vechta zu Gast, weitere Städte wie Dresden und Berlin folgten, doch die dabei gemachten Erfahrungen waren durchaus unterschiedlich. In Berlin etwa war sie von den Jugendlichen des Vereins Miphgasch/Begegnung in einen alten S-Bahn Waggon auf einer Freifläche am Anhalter Bahnhof eingeladen worden. Dort hatten die Schülerinnen und Schüler Dokumente und Materialien zum Nutzungsverbot der S-Bahn für Juden in einer Ausstellung zusammengestellt. Einige Wochen nach Orna Birnbachs Besuch wurde der S-Bahn-Wagen durch einen Brandanschlag nahezu vollständig zerstört. Stunden später meldeten sich Freunde der Eisenbahn mit der Anfrage, ob der Verein möglicherweise unbeschädigte Teile des Waggons entbehren könne. Dieses Beispiel verweist auf die extreme Gleichgültigkeit im Umgang mit jüdischer Geschichte und Gegenwart. Gleichgültigkeit hat Orna Birnbach ganz persönlich auch in Bochum erfahren. Ein im Jahr 2000 frühzeitig informierter Oberbürgermeister Stüber hat es zu keiner Zeit erwogen, den Gast aus Tel Aviv in Bochum zu begrüßen. Die Verwaltungsspitze hat auch die Parteien der Ratsfraktion nicht informiert. Einige Vertreter aus der SPD und den GRÜNEN, doch vor allem zahlreiche Bochumer Bürgerinnen und Bürger, brachten ihre Empörung und Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß die Stadt sich darüber hinaus zu keiner finanziellen Unterstützung in der Lage sah. Dies noch zu einem Zeitpunkt, als Orna Birnbach bereits einige Bochumer Schulen besucht hatte. Die Zeitungen berichteten vom Beginn ihres Besuchs an und befassten sich auch mit den Merkwürdigkeiten im Verhalten der Stadt. Als der 9. November nahte, beeilte sich das Oberbürgermeisteramt, über das bis dahin ebenfalls angeblich nicht informierte Schulverwaltungsamt Mittel zuzusagen.
Nach den Erfahrungen in Witten, wo der dortige Oberbürgermeister Lohmann sowie die Stadtverwaltung sich bereits 1998 für ihren Besuch engagiert hatten, überraschte es Orna Birnbach, welches Bild der Stadt Bochum sich ihr bot. Vor allem paßte es nicht zu den Erfahrungen in Bochumer Schulen oder auch den Gesprächen in der evangelischen Stadtakademie im Jahr 2000. Einige Gedanken zu ihrem Aufenthalt hat sie in ihrem Brief an Ministerpräsident Clement zum Ausdruck gebracht, dem wir für seine spontane und unbürokratische Hilfe, doch vor allem für seine Zeilen an Frau Birnbach dankbar sind. Dieser Dank gilt ebenso den vielen Schülerinnen und Schülern, auch jenen, die nichts zu dieser Dokumentation beigetragen haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle noch einmal gesagt, wie wichtig es für Orna Birnbach war und ist, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Es ist offensichtlich geworden, daß jüngere Menschen bei der Konfrontation mit jüdischer Geschichte und Gegenwart grundsätzlich über Möglichkeiten verfügen, die sich nicht auf Betroffenheit reduzieren oder in Verkrampfung einmünden. Mit leichten Einschränkungen trifft dies auch auf die beteiligten Lehrerinnen und Lehrern zu, was nachvollziehbar wird, wenn man den Befunden der Psychoanalyse in Deutschland folgt: Insbesondere die Generation der heute über 50jährigen sei in spezifischer Form traumatisiert – durch das Schweigen der Eltern, die ausgebliebenen eigenen Fragen an die Elterngeneration und die Konfrontation mit der Unfähigkeit, heute eine Sprache bei der Begegnung mit einer Frau wie Orna Birnbach zu finden, die ihrerseits zum Gespräch einlädt.
Es gab Schulen, in denen Lehrerinnen im Kollegium kein Gehör fanden, auf Ablehnung bei der Schulleitung stießen und manchmal immerhin durchsetzen konnten, daß Frau Birnbach ausschließlich eine Unterrichtsstunde besuchte. Die weit überwiegende Mehrzahl der Schulen aber hat ihr das Gefühl vermittelt, herzlich willkommen zu sein. Auch hat mancher Schulbesuch zu Formen der ganz praktischen Weiterbeschäftigung geführt. So ist man etwa an der Maria-Sybilla-Merian Gesamtschule dabei, einen Austausch mit einer Schule in Tel Aviv einzurichten.
Dort wie auch an anderen Schulen haben Schülerinnen und Schüler nach dem Besuch von Orna Birnbach Projekte durchgeführt, Radiosendungen konzipiert und weiteres, das hier nicht dokumentiert werden konnte.
Diese Dokumentation vermag es nicht zu leisten, die Biographie von Orna Birnbach oder aber Auszüge ihres ca. zweistündigen Berichts zu präsentieren. Dieser selbst schon ist »gestaute Zeit« und verweist auf eine größere Erzählung, die mit einer Kindheit in Wloclawek beginnt, und in der über die Shoah hinaus deutsche, polnische und israelische Geschichte und Geschichten miteinander verwoben sind. Ihre Lebensgeschichte liefert auch Hinweise für das bislang wenig erkundete Themengebiet »Frauen und Holocaust«. Nachdem zunächst das Vorurteil beseitigt werden mußte, daß sich die KZ-Aufseherinnen weniger grausam als ihre männlichen Kollegen verhalten hätten, rückt inzwischen die Unterschiedlichkeit der individuellen Schicksale von Frauen während der Shoah ins Blickfeld der historischen Forschung.(2)
In dieser Dokumentation sind vor allem Beiträge aus der Nach-Geschichte der Shoah versammelt, die vom Umgang mit jüdischer Geschichte und jüdischen Geschichten in der generationsübergreifenden Konfrontation(3) erzählen. Einen ganz eigenen Zugang hat die Schülerin Gilda Feller gewählt, indem sie sich vorstellte, wie es Orna Birnbach beim Besuch ihrer Schule ergangen sein mag. In das Ich ihres Beitrags seien eigene Empfindungen mit demjenigen zusammengeflossen, was sie von Frau Birnbach erfahren habe. Das Prekäre dieses Verfahrens ist ihr durchaus bewußt und läßt entfernt an dasjenige der polnischen Schriftstellerin Hanna Krall denken, die jüdische Biographien aufspürt und zu Geschichten formt.(4)
Am Ende der Dokumentation sind diejenigen Institutionen und Gruppen aufgeführt, die – neben vielen nicht genannten Einzelpersonen – den Besuch von Orna Birnbach in finanzieller und anderer Weise mit ermöglicht haben. Insbesondere danken wir den im Jahr 2000 beteiligten Schulen und ausdrücklich der Stadt Witten für ihr ungewöhnliches Engagement.
Bochum im November 2001, Andreas Disselnkötter & Karin Schiele
(1) In zwei weiteren Verfahren, 1971 in Wien und 1977 in Hannover, sagte sie im Zusammenhang mit den Massenverbrechen in Plaszow aus.
(2) Vgl. dazu die Beiträge in: Barbara Distel (Hg.): Frauen im Holocaust. Bleicher-Verlag, Göttingen 2001.
(3) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die didaktische Reihe des Fritz Bauer Instituts: Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust. Heft 1: Identität. Hrsg. von Gottfried Kößler und Petra Mumme. Frankfurt/Main 2000.
Anläßlich des Besuchs von Orna Birnbach im Jahr 2000 boten wir eine Lehrerfortbildung an: "Holocaust im Schulunterricht.
Orte – Begegnungen – Erfahrungen« (am 8.11. im Bochumer Bahnhof Langendreer – Zentrum für Soziokultur).
(4) Viele ihrer Bücher liegen übersetzt vor. Vgl. z.B.: Hanna Krall: Da ist kein Fluss mehr. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. Verlag Neue Kritik. Frankfurt/Main 1998.