Zwei Meldungen möchte ich meiner Einleitung voranstellen, zum Geleit zu einem sehr bemerkenswerten Buch. Es behandelt eine geschichtliche Entwicklung, die offiziell niemand bemerken soll.
Zunächst diese: „Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Massenverbrechen in Ludwigsburg steht vor dem Aus. Große Teile ihrer Bestände sollen geschreddert werden. Aber, so finden nicht nur Historiker, sie sind interessant für die Aufarbeitung des manchmal sehr wohlwollenden Umgangs der Ämter mit NS-Tätern.” (Jüdische Allgemeine, 8.12.2016)
Und diese: „Regierung streicht heikle Passagen aus Armutsbericht. Ministerin Nahles hatte den Einfluss von Reichen auf die Politik untersuchen lassen. Manche dieser Ergebnisse fehlen nun. So fehlt zum Beispiel der Satz: ‘Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird.’” (Süddeutsche Zeitung, 15.12.2016)
Noch bis vor kurzem hat Ludwigsburg in der Aktion „Last Chance” gegen hochbetagte Täter aus Vernichtungslagern ermittelt und Bestrafungen erwirkt. Es waren Aufseher beispielsweise aus Auschwitz. Die Erbauer von Auschwitz-Birkenau, die Banker und IG Farben-Manager bzw. ihre Institutionen wurden nicht belangt. Ihre strafweise Enteignung unterblieb. Es gab umfassende Tätergruppen, die nie von deutschen Gerichten belangt wurden. So die deutschen Unternehmer.
Alle Formen der kapitalistischen Herrschaft – so die konstitutionelle Monarchie, die parlamentarische Republik und auch der Faschismus – sehen die „Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen” vor. 1933 wäre die Machtübertragung an Hitler und seine Partei nicht möglich gewesen ohne den Willen der ökonomischen Eliten. Krieg, Holocaust, Millionen Tote, ein zerstörtes Europa – all das wäre uns erspart geblieben, wenn die „Räte der Götter” nicht ihre Macht ausgeübt hätten.
Nach 1945 war allgemein die Erkenntnis verbreitet, dass die kapitalistischen Unternehmen und ihre Führungen nie wieder so viel Macht erlangen dürfen wie vor 1933. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 hieß es: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Wirtschafts- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht.”
Es ist anders gekommen. Doch es gibt noch immer die Möglichkeiten, an die Erkenntnisse von 1947 anzuknüpfen. Das Grundgesetz und die Länderverfassungen kennen Sozialisierungsartikel. Das Bundesverfassungsgericht entschied in einem Grundsatzurteil im Jahre 1954: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche.” Das Urteil gilt bis heute.
Dennoch verhalten sich viele Gerichte und der Verfassungsschutz so, als wäre der Kapitalismus gleichzusetzen mit der Verfassung. Kapitalismuskritik gilt als verfassungsfeindlich.
Dieses Buch ist eine Anklageschrift, wie sie nie ein Staatsanwalt im Lande geschrieben hat, – wie sie aber notwendig gewesen wäre. Und nun liegt sie vor, geschrieben von einem Aktivisten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten und Antifaschistinnen. Die Schuld des großen Kapitals an der Vernichtung der Demokratie, an Kriegsvorbereitung und Massenvernichtung von Menschen wird nachgewiesen. Erstmals wird der Umsturz nicht nur im Reichsmaßstab, an der Spitze der Pyramide dargestellt, sondern auch die Auswirkungen in den Betrieben verdeutlicht. Der Unternehmer wurde zum Betriebsführer, zum Diktator, der über seine Gefolgschaft herrschte. Belegt wird, dass das Gerede von der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit durch die Nazis verlogen ist. Zwar kamen mehr Arbeiterinnen und Arbeiter in die Betriebe, aber für größere Belegschaften wurde eine geringere Lohnsumme gezahlt. Der Begriff Zwangsarbeit hätte eigentlich ab 1933 für alle Arbeiter und Arbeiterinnen angewendet werden müssen, der dann ab Kriegsbeginn für die Millionen Deportierten galt, auf die der Begriff Sklavenarbeit anzuwenden wäre.
Die faschistische Herrschaft wird in diesem Buch bis an die Basis im Betrieb herab verfolgt, wie es bisher nicht möglich war. Das gelingt, in dem neben der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Focus auf Bochum gerichtet wird, damals die Gauhauptstadt für den größten Teil Westfalens. Damit wird eine Spurensuche betrieben –Suche nach den Tätern bis in den Stadtteil hinein. Möge mit dem Buch im regionalgeschichtlichen Unterricht gearbeitet werden.
Die Alliierten haben in Nürnberg einige wenige Industrielle angeklagt, die deutschen Behörden haben sie wieder freigelassen und ihnen ihren Besitz zurückgegeben. Auch von den ganz Großen wurden nur sehr wenige belangt, so z.B. gingen die Quandts unbehelligt durch die deutsche Nachkriegsgeschichte und gehören damals wie heute zu den Reichsten. Mittels Büchern wie dem vorliegenden und mit einer Aktion „Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933-1945” zur Spurensuche und -kennzeichnung der Tatorte – einer Aktion der VVN-BdA – können die „justizialen Schredderaktionen” in Frage gestellt werden, – wenn auch nicht im juristischen Sinne, wohl aber im moralischen. Die etablierten Historiker der Drittmittelforschung haben sich auf das Schonen des Ansehens des großen Geldes geeinigt. Der Historiker aus den USA Henry Ashby Turners legte 1985 dafür den Grundsatz fest: „Entspricht die weit verbreitete Ansicht, dass der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen.” Ja, es ist nicht zu verteidigen. Mit diesem Buch wird es angeklagt. „Eine Neuordnung von Grund auf” (CDU 1947) ist notwendig.
Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA
Dortmund im Mai 2017